In dieser Rubrik „Theorie Shortcut“ möchte ich Euch eine Abkürzung zu wichtigen Theorien und ihren Anwendungsmöglichkeiten für geschichtswissenschaftliche (Haus-)Arbeiten geben. Die Grundlagentexte verschiedener Theorien und Methodiken erfordern ein hohes Maß an Kontextwissen und aufgrund ihrer Fachsprache auch viel Aufmerksamkeit. Gerade für Anfänger im Geschichtsstudium sollen die Artikel dieser Rubrik einen Fingerzeig auf zentrale geschichtsphilosophische Spannungsfelder sein, anhand derer ihr in Euren eigenen Arbeiten argumentieren könnt. Durch ein einfaches „inwiefern…“ habt ihr noch keine offene und geeignete Fragestellung. Diese Artikel geben Euch aber vielleicht eine Inspiration, welches Raster an eine Quelle angelegt werden könnte.
Sollten wir uns als moderne Historiker:innen noch eingehend mit geschichtsphilosophischen Fragestellungen befassen oder ist das eine unfruchtbare und nie endende Debatte? Könnte nicht gerade bei so geflügelten Begriffen wie ‚Fortschritt‘ argumentiert werden, dass der Begriff durch seine Subjektivität an Bedeutsamkeit eingebüßt habe? Während Steven Pinkler ein starker Verfechter eine voranschreitenden Fortschrittsprozesses war, bezeichnete Ashis Nandy Fortschritt als einen der „schmutzigsten Begriffe“ der Moderne. Rahel Jaeggi behauptet, mit diesem Buch diesen Zwist um den Fortschrittsbegriff auflösen zu können und ich behaupte, dass ihr das in eurer nächsten (Haus-)Arbeit zur Interpretation heranziehen könnt.
Im Kern beschreibt Fortschritt eine Entwicklung, die nicht nur Veränderung bedeutet, sondern auch eine Verbesserung. Doch was „besser“ ist, hängt immer vom jeweiligen Standpunkt ab. Jaeggi stellt fest, dass Fortschritt kein festgelegtes Ziel hat – es gibt nicht die eine perfekte Zukunft, auf die alles hinausläuft. Vielmehr ist Fortschritt ein Prozess: Man löst Probleme, stößt dabei aber oft auf neue Herausforderungen.
Merkmale des Fortschritts
Kritik
Kette des Fortschritts – Fortschritt geschieht nicht isoliert von anderen Prozessen. Technologische, moralische, soziale und politische Entwicklungen sind miteinander verbunden. Zum Beispiel führte die Erfindung des Buchdrucks nicht nur zur besseren Verbreitung von Wissen, sondern beeinflusste auch die Bildung und Politik.
Nicht jede technische Entwicklung bedeutet moralischen Fortschritt – Zum Beispiel kann die Digitalisierung den Zugang zu Wissen erleichtern, aber auch neue Probleme wie Überwachung oder Manipulation mit sich bringen.
Unwiderstehlichkeit – Fortschritt wird oft als etwas dargestellt, das nicht aufzuhalten ist. Dadurch fühlen sich Menschen ermutigt, Veränderungen anzunehmen.
Fortschritt ist nicht automatisch gegeben – Fortschritte müssen von Menschen erkämpft werden und stoßen oft auf Widerstand.
Entwicklungslogik – Fortschritt wird manchmal so betrachtet, als wäre er ein natürlicher Prozess, ähnlich wie das Aufwachsen eines Kindes. Diese Sichtweise kann jedoch problematisch sein, da sie suggeriert, dass manche Gesellschaften „weiter“ oder „rückständiger“ seien.
Gefahr des Imperialismus – Die Idee, dass manche Länder oder Kulturen „weiterentwickelter“ seien als andere, wurde in der Vergangenheit genutzt, um Kolonialismus oder Ungleichheit zu rechtfertigen.
Verlustfreie Anreicherung – Es gibt die Vorstellung, dass Fortschritt nur ein Hinzufügen von Neuem ist, ohne dass dabei etwas verloren geht.
Jaeggi zeigt, dass manche Veränderungen auch zu einem Verlust von Wissen oder Fähigkeiten führen könne
Jaeggi schlägt einen anderen Fortschrittsbegriff vor: Statt einer geradlinigen Bewegung hin zu einem Ziel sieht sie Fortschritt als einen Lernprozess. Fortschritt bedeutet nicht einfach, etwas Altes hinter sich zu lassen, sondern bestehende Probleme zu erkennen und Lösungen zu entwickeln. Dieser moralische Fortschrittsprozess vollzieht sich weder als reine Reform noch als vollumfassende Revolution. Eine moralische Revolution würde bedeuten, dass völlig neue Werte entstehen, die keinerlei Verbindung zur Vergangenheit haben. Doch Jaeggi zeigt, dass neue moralische Prinzipien oft aus bestehenden Ideen herauswachsen. Ein Beispiel ist die Abschaffung der Sklaverei: Sie war nicht einfach ein plötzlicher Bruch mit der Vergangenheit, sondern baute auf bestehenden Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit auf, die neu interpretiert wurden.
Was ist Fortschritt nicht?
Einerseits erklärt Jaeggi, dass Fortschritt nicht lediglich die Ausweitung bereits existierender Normen auf weitere Personengruppen ist. Peter Singer hatte argumentiert, dass sich der Kreis derjenigen, die als moralisch achtenswert betrachtet werden im Laufe der Zeit erweitere. Dem widerspricht Jaeggi aus mehreren Gründen, weil es bereits voraussetzt, dass für einen bestimmten Kreis bereites die ‚richtigen‘ Normen gelten. Dabei verändert sich im Prozess und auch bei der vollständigen Übernahmen durch z.B. Institutionen immer etwas. Außerdem erklärt das Modell von Singer nicht, wie diese Normen ursprünglich entstanden.
Eine weitere These über den Fortschritt lautet, dass Fortschritt eine Vertiefung und Übernahme von Normen in institutionelle Zusammenhänge ist. Das was Jürgen Habermas den „normativen Überschuss von Freiheit und Gleichheit“ nennt wird komplexer interpretiert und im institutionellen Rahmen realisiert. Richtig an dieser Theorie ist, das sie die Veränderungen dessen, was der Gegenstand des Fortschritts ist, bei seiner Übernahme reflektiert. Moralischer Fortschritt erfolgt in Form von moralischen Kämpfen, die von oben herab gewährt werden müssen. Allerdings beinhaltet diese These auch keine Ideen, wie sich neue Prinzipien herausbilden. Sie werden auch hier einfach als ‚da‘ vorausgesetzt.
Im Gegensatz zum Fortschritt steht für Jaeggi der Begriff ‚Regression‘, der anstelle einer Problemlösung einen blockierten Lern- und Erfahrungsprozess beschreibt. Regression kann bedeuten, dass Gesellschaften Wissen oder Fähigkeiten verlieren. Beispielsweise wurden durch Industrialisierung und Technisierung viele handwerkliche Fertigkeiten verdrängt, die zuvor über Generationen weitergegeben wurden. Es gibt auch gesellschaftliche Entwicklungen, die als Regression betrachtet werden können – etwa wenn demokratische Errungenschaften wieder zurückgenommen werden oder wenn Diskriminierung und Ungleichheit wieder zunehmen. Jaeggi betont jedoch, dass Regression nicht einfach die Romantisierung einer früheren Zeit bedeutet, sondern eine systematische Blockierung einer Problemlösung.
Historische Anwendungsmöglichkeiten
Nun habe ich lang und ausführlich das Konzept erklärt, bin aber noch nicht zu den Anwendungsmöglichkeiten gekommen. Zunächst liegt auf der Hand, dass Geschichte nicht als lineare Abfolge von Fortschritten betrachtet werden kann. Ebenso wenig, sollte sie als lineare Abwechslung von Fortschritten und Rückschritten betrachtet werden, weil es sich um komplexe Lern- und Erfahrungsprozesse handelt.
Das bedeutet, dass dieser Fortschrittsbegriff nicht teleologisch (also auf ein unvermeidliches Ziel) ausgerichtet ist, sondern setzt den Fokus auf die Probleme einer Gesellschaft, wie diese damit umging und welche neuen Probleme daraus entstanden. Die Revolution schuf mehr politische Teilhabe für das Bürgertum, aber andererseits wurden Frauen und bestimmte soziale Gruppen weiterhin ausgeschlossen. Die Jakobinerdiktatur wandelte die Idee der Volkssouveränität in eine neue autoritäre Herrschaftsform um. Die Probleme der Ständeherrschaft wurden zwar in bestimmten Punkten überwunden, die Lösungen eröffneten aber neue Probleme.
Mithilfe dieses Fortschrittsbegriffs können dennoch die chauvinistischen Vorstellungen internationaler Reformbewegungen kritisiert werden. Statt Abstufungen zwischen Europa und dem „Rest der Welt“ wendet sich der postkoloniale Blick den beidseitigen Austausch von Wissen zu und macht so Raum für Ambivalenzen. Menschenrechte und Gerechtigkeit unterliefen verschiedenste Transformationen.
Statt eine bestimmte Periode einfach nur als moralischen, technischen oder politischen Rückschritt zu analysieren (wie z.B. die Völkerwanderung) fragt dieses Interpretationsmuster nach den blockierten Lernprozessen und den ungelösten Problemen. Handelte es sich vielleicht um ungelöste Widersprüche des Römischen Reichs, die durch die politische Verlagerung und Neuformierung überwunden wurden?
Über all diese Anwendungsmöglichkeiten ist es wichtig zu verstehen, dass Fortschritt kein Selbstläufer ist. Allein der Blick auf die sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, auf aktuelle intellektuelle Debatten oder auf institutionelle Kämpfe während der Französischen Revolution, zeigt das Wirken von verschiedensten Akteuren und Akteurinnen. Denn das ist der Kern von Historiographie: Der Fakt einer Veränderung allein ist noch nicht interessant. Welche historischen Prozesse und Bedingungen machten diese Veränderung möglich, welche Kräfte behinderten einen Lernprozess und welche alternativen Wege wären möglich gewesen.
„Ich erforsche nicht die Diskurse in dem, was sie stillschweigend sagen wollen, sondern hinsichtlich der Tatsachen und Bedingungen ihres manifesten in Erscheinung tretens; ich erforsche nicht die Inhalte, die sie möglicherweise verbergen, sondern die Transformation diese bewerkstelligt haben; nicht den Sinn, der sich in ihnen wie ein fortwährender Ursprung erhält, sondern das Feld in dem sie koexistierend Bestände haben und in den Hintergrund zurücktreten.“
M. Foucault, „Antwort auf eine Frage“, in Analytik der Macht, 9. Auflage., D. Defert, F. Ewald, und J. Lagrange, Hrsg., in Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, no. 1759. , Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2021, S. 25–51, hier S. 36.
Studiere Geschichte seit 2021. Meine Themenbereiche sind Bremer Regionalgeschichte, insbesondere die des Gesundheitswesens um 1900, Wissenssoziologie und Public History. Redakteur der Website
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