Theorie Shortcut: Geschichte – Eine objektive Wissenschaft?

Heliometer der Sternwarte zu New Haven. Aus Meyers Konversationslexikon (1890), S. 984.

Geschichtswissenschaft ist eine Wissenschaft wie jede andere. Oder auch nicht? Wir bezeichnen mit Wissenschaft sämtliche Arten des systematischen Wissens. Die deutsche Bezeichnung für Wissenschaft ist sehr großzügig ausgelegt und kann zum Beispiel auch Astrologie und Bauernweisheiten beinhalten. Auch heute reagieren noch viele Naturwissenschaftler herablassend auf Sozialwissenschaften, weil ihre Form des Wissens die vermeintlich reinere, objektivere sei. Sie bemühen sich um eine klare Grenzziehung ihrer Disziplinen zur Geschichts- und Kulturwissenschaft. Mit der englischen Bezeichnung ’science‘ gestaltet sich die Klassifizierung deutlich schwieriger. Das Geschichte in der Öffentlichkeit als geringerwertig angesehen wird, war nicht immer so. Diese Versuche Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaft zu ziehen, haben eine längere Geschichte und erst in der jüngeren Zeit wurden die MINT-Fächer höherwertig eingestuft.

In dieser Rubrik „Theorie Shortcut“ möchte ich Euch eine Abkürzung zu wichtigen Theorien und ihre Anwendung in geschichtswissenschaftlichen (Haus-)Arbeiten bieten. Die Grundlagentexte von Theorien und Methodiken erfordern meist ein hohes Maß an Kontextwissen und nutzen komplizierte Fachsprache. Gerade für Anfänger im Geschichtsstudium sollen die Artikel dieser Rubrik einen Fingerzeig auf zentrale geschichtsphilosophische Spannungsfelder sein, anhand derer ihr in Euren eigenen Arbeiten argumentieren könnt. Durch ein einfaches „inwiefern…“ habt ihr noch keine offene und geeignete Fragestellung. Diese Artikel geben Euch aber vielleicht eine Inspiration, welches Raster an eine Quelle angelegt werden könnte. Dieser Text hier verbindet mehrere Texte, die ich zu dieser Fragestellung herangezogen habe. Allen voran der von Lorraine Daston. Lediglich die Zusammenstellung dieser Gedanken ist meine eigene Leistung. Alle Texte findet ihr unten im Literaturverzeichnis.

Als sich im 17. Jahrhundert die Royal Society in London gründete, wurden ihre Versuche, Wissen über die Natur als verschieden zu denen über die Philosophie zu definieren, noch verlacht. Die Royal Society war die Zielscheibe von Satiren. Als 1835 der Physiker William Whewell in Cambridge den Begriff ’scientist‘ zu prägen, wurde er auch heftig aus seinen eigenen Reihen kritisiert. Die Physiker wollten sich lieber als ‚Naturphilosoph‘ bezeichnen und sahen die Technisierung als Herabwürdigung. Ein weiterer bekannter Physiker, ein gewisser Hermann von Helmholtz, räumte 1862 bei seiner Antrittsrede an der Universität Heidelberg noch ein:

Alles Wissen ist Macht, aber die Geisteswissenschaften stellen ein machtvolleres Wissen bereit als die Naturwissenschaften. Denn diese liefert nur die Technologie des modernen Staates, während mittels der Geisteswissenschaften die Bevölkerung Disziplin lernen könnte, nämlich durch […] die politische und rechtliche Organisation des Staates, die moralische Disciplin der Einzelnen, welche das Übergewicht der gebildeten Nation über die ungebildeten bedingt“.

Helmholtz, Hermann: Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft, in: Vorträge und Reden, Braunschweig 1903, S. 181f, zit. n. Daston, Lorraine: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in: Otto Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität, Göttingen 1998..

Diese Einstellung änderte sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts massiv. Pseudowissenschaften wie Kraniometrie, Eugenik und Lyssenkoismus haben alle die Gemeinsamkeit, dass sie versuchten das Soziale anhand abgeleiteter natürlicher Prinzipien messbar zu machen. Sie versuchten, Natur- und Sozialwissenschaft zu verbinden. In der Praxis scheiterten sie alle und entlarvten sich selbst als Pseudowissenschaft. Auch für die Naturwissenschaft war das eine Blamage und die Wissenschaftler versuchten sich abzugrenzen. Das neue Ideal war eine ’neutrale‘ Wissenschaft. Da sich auch die Eugenik neutral und objektiv präsentierte, brauchte es systematische Prinzipien zur Abgrenzung.

Diese stellte Robert Merton 1942 in „Science and Technology in a Democratic Order“. Er formulierte folgende Ideale:

  1. Universalismus
  2. Unparteilichkeit
  3. Organisiertes Skeptizismus
  4. Kommunismus (ja, tatsächlich – aber im Sinne einer gemeinschaftlichen Nutzung)

Seine Prinzipien wurden auch in der öffentlichen Kultur durch lebhafte Negativbeispiele aus dem Faschismus und Stalinismus untermalt. Doch es gab bereits die ersten Kritiker. Wer muss neutral sein und wer ist es tatsächlich? Sind es die wissenschaftlichen Inhalte, die diesem Anspruch gerecht werden müssen, die Institutionen wie das peer-review-System oder die Einzelpersönlichkeiten. Wissenschaftler*innen sind trotz aller Versuche diese Tatsache abzustreiten, Teil eines kulturellen Kontextes. Die ersten Kritiker arbeiten sich zunächst an den Pseudowissenschaften ab, erzielten damit aber nur wenig Erfolg bei der Überzeugung der Geisteswissenschaftler, da diese ihre Abgrenzungsbemühungen ebenfalls durch den Verweis auf Kraniometrie, Phrenologie usw. begründeten. Es dauerte eine Weile, bis Sozialwissenschaftler sich auch den problematischen Ursprüngen mathematischer oder physikalischer Theorien zuwandten. Werke wie Thomas S. Kuhns „Die Struktur wissenschaftlicher Revolution“ (1973) stellten die Zusammenhänge und Systematik wissenschaftlichen Fortschritts zwischen Kultur und Forschung übergreifend für mehrere Epochen hinweg fest. Mittlerweile ist es unumstritten, dass das Erziehungssystem, die Institutionen und sogar Klassenprivilegien einen hemmenden oder fördernden Einfluss auch auf die Naturwissenschaft haben.

Zur Illustration warum auch „objektive“ Klassifizierung kulturabhängig ist zwei Beschreibungen des Pfaus:

Conrad Gessner (1555)Charles Darwin (1859)
– beschreibt Darstellungen in Mythologie, Sprichwörtern und Sprachen– visuelle Beschreibung
– Nutzbarkeit als Heilmittel– Verhaltensweise monogam
– „schämt sich seiner Füße“– Pfauenfedern durch „sexuelle Selektion“ –> die er voller Stolz dem Weibchen zur Schau stellt

Die naturwissenschaftlichen Skeptiker würden natürlich Darwins Variante priorisieren. Aus ihrer Sicht wurde in Darwins Variante das Kulturelle abgestriffen, „naturalisiert“ oder „entzaubert“. Strenggenommen anthropomorphisiert aber auch Darwin. Er stellt einen Bezug auf die künstlichen Geschlechterrollen der Menschen her.

Es ist also kaum möglich, das Kulturelle bei dieser Art der Wissenschaft abzustreifen. Trotzdem würde niemand den Wert der Evolutionstheorie oder gar des
Korrelationskoeffizienten nach Bravais-Pearson (der seine Ursprünge in der Eugenik hat) abstreiten. Es liegt also nichts Falsches darin, auch Naturwissenschaften als Produkte kultureller Praktiken anzusehen.

Was bleibt von der Wahrheit?

Kultur = Herstellung von Bedeutung = ’neutrale‘ Wissenschaft

Wissenschaft kann eine Kulturpraktik sein und das Theorem von Merton kann trotzdem stimmen. Aus der Befolgung seiner Tugenden entsteht aber nicht automatisch Objektivität oder Authentizität. Objektivität ist nicht dasselbe wie die Suche nach Wahrheit durch umfassende Erklärungen oder mathematische Konstrukte. Sie wird vielmehr hergestellt durch wissenschaftliche Praktiken, die in unserer Kultur mit den epistemologischen Tugenden von Merton eben sehr gut zusammenpassen.

Ein Beispiel, wie Objektivität aber im Konflikt zu Universalismus, Unparteilichkeit etc. stehen könnte, ist zum Beispiel die botanischen Zeichnungen oder der Fotoapparat. Im 18. Jahrhundert war es üblich, anatomische oder botanische Zeichnungen zu erstellen, die das „ideale“ Exemplar eines Organs oder einer Pflanze zeigten – eine ideale Typisierung, die aus vielen individuellen Beobachtungen abstrahiert wurde. Ähnlich dazu ist auch die Abstraktion durch den Fotoapparat. Teil der objektiven wissenschaftlichen Kultur ist nämlich der Versuch, menschliche Beobachtungsungenauigkeiten auszuschließen und zu mechanisieren. Eine Beglaubigung durch ein Foto dient der Illusion eines nicht-menschlichen Eingriffs. Heute völlig unvorstellbar, aber in den frühen Jahren der Fotografie wurden die Aufnahmen tatsächlich als objektive Wahrheit angesehen (Vgl. André Bazin: The Ontology of the Photographic Image, 1960). ie gezeichnete Darstellung war oft wahrer im Sinne einer idealtypischen Struktur, die dem Forscher half, eine Pflanze zu bestimmen. Die fotografische Darstellung hingegen war objektiver im Sinne mechanischer Neutralität, konnte aber durch Schatten, Deformationen oder individuelle Abweichungen weniger brauchbar für wissenschaftliche Zwecke sein.

Wahrheit durch Abstraktion vs. Objektivität durch Mechanisierung

Was bleibt für die Geschichtswissenschaft?

Die Behauptung in den Sozialwissenschaften könne nicht objektiv gearbeitet werden, ist falsch. Ebenso wie die Naturwissenschaften haben wir Methoden der Begründung und Argumentation, mit denen wir die Tugenden von Merton erfüllen können. Peer-review-Verfahren können und müssen gerade in Zeiten von KI verbessert werden.

Die Geringschätzung der Naturwissenschaftler lässt sich jedoch nicht allein dadurch erläutern. Eingebettet in das gegenwärtige kapitalistische Wirtschaftssystem spielt natürlich die Verwendbarkeit und Nutzbarkeit von Sozialwissenschaft eine Rolle. Aber hat dieser Wissenschaftszweig wirklich seine Relevanz für unsere Gesellschaft verloren oder ist das vielmehr ein gegenwärtiges Narrativ, das zwar objektiv beschrieben sein kann, aber nicht wahr sein muss. Gerade in der Wirtschaftswissenschaft gelten hochkomplexe mathematische Modelle als objektiv, weil sie scheinbar neutral und präzise sind. Doch sie beruhen auf ideologisch hochumstrittenen Modellen.

Natürlich könnte versucht werden, die gesellschaftliche Relevanz und den „Nutzen“ nach der derzeitig dominanten gesellschaftlichen Definition messbar zu machen. Die Anwendbarkeit wäre jedoch auf verschiedene Weise problematisch. Im Gegensatz zur praktischen Anwendung von Medizin und Technik oder zu ökonomischen Faktoren verfolgen Geisteswissenschaften interpretative Wahrheitsziele, deren praktische Umsetzung und Übertragung in die Gesellschaft zumindest nur indirekt, langfristig oder qualitativ festgestellt werden können. So kritisierten z.B. vor kurzem die Historikerinnen Sarah Gensburger und Sandrine Lefranc die verbreitete Annahme, dass Erinnerung automatisch zu Toleranz, Frieden und Demokratie führt. Ihre These: „Memory Professionals“ können nur vorgefertigte Auffassungen von Geschichte bestätigen. Erinnerungspolitik selbst entsteht in einem vorpolitischen Raum durch soziale Interaktionen, also durch Reaktionen, Reaktanz oder gezieltes Desinteresse.

Außerdem besteht in unserer gegenwärtigen Kultur die Annahme eines Gegensatzpaars ‚Kultur vs. Natur‘. Trotz aller Versuche der Philosophie dieses Gegensatzpaar, beispielhaft illustriert zwischen Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau, wieder zusammenzubringen, hält sich dieses metahistorische Narrativ. Metahistorische Narrative zu ändern wäre eine wahre wissenschaftliche Revolution, die vielleicht sogar durch uns Geschichtswissenschaftler getrieben werden könnte.


Literatur

Bazin, André; Gray, Hugh: The Ontology of the Photographic Image, in: Film Quarterly, Bd. 13 (1960), 4–9.

Daston, Lorraine: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in: Otto Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität, Göttingen 1998.

Gensburger, Sarah; Lefranc, Sandrine: Beyond memory: can we really learn from the past? Cham 2020.

Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Bd. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, 27. Auflage, Frankfurt am Main 2023.


Über Nils Dahle 10 Artikel
Studiere Geschichte im Vollfach seit 2021, mittlerweile im Master Public History. Meine Themenbereiche insgesamt sehr heterogen mit besonderem Schwerpunkt auf Wissensgeschichte, Bremer Stadtgeschichte und den Reformbewegungen der Kaiserzeit. Redakteur der Website

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*