Andreas Reckwitz‘ Theorie sozialer Praktiken bietet Geschichtswissenschaftlern eine äußerst fruchtbare Perspektive zur Analyse alltäglicher Handlungsweisen, insbesondere im Kontext der alltagsgeschichtlichen Forschung. Die Theorie versteht das Soziale nicht als bloßes Ergebnis individueller Akte oder normativer Regelungen, sondern verortet es in den „kollektiven, routinierten Bündeln von Aktivitäten“. Diese Sichtweise eröffnet Historiker die Möglichkeit, nicht nur die „Routinen in Unternehmen“ oder „Formen der Verwendung technischer und medialer Artefakte“ nachzuvollziehen, sondern auch die subtilen Dynamiken, die in der Entstehung und Fortführung alltäglicher kultureller Praktiken wirken. So werden die Routinen des „doing culture“ in zeitlichen Abläufen und die geschlechtlichen „Performances“ als sinnstiftende Praktiken rekonstruierbar.
Historiographische Anwendungsmöglichkeiten
Historisch interessante Anwendungsmöglichkeiten der Theorie finden sich besonders im Bereich der Alltagsgeschichte. Empirische Arbeiten, die auf Rekonstruktionen des alltäglichen Lebens zielen, können hier entscheidende neue Perspektiven gewinnen. Es geht darum, soziale Praktiken als zentrale Analyseeinheit zu verstehen und dadurch historische Phänomene neu zu interpretieren. Dies betrifft etwa die Untersuchung von Geschlechterrollen, die statt als starre Konstrukte auch als „performative“ öffentliche Handlungen – wie von Judith Butler beschrieben – ständig reproduziert und verhandelt verstanden werden können. In der historischen Analyse bedeutet dies, dass Geschlecht als eine praktische Demonstration von „know-how-abhängigen“ Akten gedeutet wird. Diese sind für das Selbstverständnis des historischen Akteurs prägend beziehungsweise konstitutiv. Darüber hinaus ist diese Logik auch anwendbar auf Kulturmodelle, die Kultur als Sphäre geteilter Normen und Werte begreifen. Menschen als Träger von implizitem Wissen über Handlungsmuster zu betrachten, erlaubt es, sich von homogenisierenden Kulturmodellen abzulösen.
Bezug auf andere Sozialtheorien
Der Ansatz der Theorie sozialer Praktiken bietet auch eine grundlegende Kritik an traditionellen Sozialtheorien, wie den strukturtheoretischen oder normorientierten Handlungstheorien. Diese betrachten das Soziale entweder als Ergebnis subjektübergreifender Strukturen oder als durch Normen und Werte determiniert. Im Gegensatz dazu betont die Praxistheorie die Bedeutung eines „praktischen Könnens“, das in konkreten Handlungszusammenhängen erlernt wird, wie etwa der Umgang mit dem eigenen Körper. Eine historische Perspektive, die auf sozialen Praktiken basiert, könnte somit untersuchen, wie historische Akteure „Alltagstechniken“ erlernten und weitergaben, die oft nicht explizit artikuliert wurden, aber dennoch ein hohes Maß an implizitem Wissen erforderten.
Ein besonders interessanter Aspekt der Theorie ist die Auseinandersetzung mit der „konflikthaften Agonalität“ und der „interpretativen Unterbestimmtheit“ von Alltagspraxen, insbesondere in sub- und populärkulturellen Kontexten. Diese Perspektive erlaubt es, historische Phänomene nicht als monolithische, eindeutige Gegebenheiten zu betrachten, sondern als Ergebnis von Aushandlungsprozessen, die durch verschiedene Akteursgruppen geprägt wurden. Dies ist etwa in der Analyse der Entstehung und Transformation von Jugendkulturen oder politischen Bewegungen von Bedeutung, bei denen subkulturelle Praktiken oft im Widerstand gegen hegemoniale Kulturmodelle standen.
Die Theorie sozialer Praktiken lässt sich auch auf die historische Organisationsforschung anwenden. Indem sie praxeologische Denkfiguren nutzt, steht sie der Rational-Choice-Theorie oder anderen Modellen von Rationalität eindeutig entgegen. Historische Organisationen können somit als Ansammlungen von Praktiken verstanden werden, die durch ein implizites Wissen und eine informelle Logik des sozialen Lebens getragen wurden.
Fazit
Somit wird die Theorie sozialer Praktiken zu einem mächtigen Werkzeug für die historische Analyse, das über die bloße Beschreibung von Handlungsregelmäßigkeiten hinausgeht und tiefere Einblicke in die kulturelle und materielle Bedingtheit menschlichen Handelns ermöglicht. Insofern stellt Reckwitz‘ Ansatz eine sozialtheoretische Perspektive dar, die nicht als ein weiteres konkurrierendes Theorienfeld zu betrachten ist, sondern als eine umfassende Grundlage zur Untersuchung der sozialen Welt – und damit auch der historischen Realität – im Lichte konkreter, miteinander verflochtener Praktiken. Diese Rezension beansprucht keine Vollständigkeit. Der Text von Andreas Reckwitz beinhaltet noch weitere Urteile über die Wechselwirkungen von Menschen und Dingen, die ebenfalls im historischen Kontext sehr ertragreich sein können. Daher meine Empfehlung: Betrachtet euren Forschungsgegenstand einmal im Kontext des practice turns.